Qualvolle Reise

The Heart is Deceitful above all Things

In ihrer ersten Regie-Arbeit „Scarlet Diva“ kämpfte Asia Argento mit eigenen Dämonen, ihr zweites Werk widmet sich den Abgründen des erfundenen amerikanischen Autors J.T. Leroy, auf dessen Geschichten „The Heart is Deceitful above all Things“ basiert (nähere Informationen zur Kunstfigur J.T. Leroy liefert der englischsprachige Wikipedia-Artikel).

Argento selbst verkörpert die drogenabhängige White-Trash-Mutter Sarah, die mit Anfang 20 ihren siebenjährigen Sohn Jeremiah zurück erhält. Der wuchs bislang bei einer Pflegefamilie auf und freut sich keineswegs über die Ortsveränderung. Da seine leibliche Mutter nicht in der Lage ist, ihm Fürsorge und Geborgenheit zu geben, nutzt er die erste Gelegenheit, um auszureißen. Doch er wird von der Polizei aufgegriffen, so dass ihn seine Mutter dort wieder abholt. Gemeinsam kehren sie nur kurz nach Hause zurück, um die wenigen Habseligkeiten für die folgende Reise in schwarze Müllbeutel einzupacken. Ohne feste Bleibe fahren die beiden durch das Land. Sarah sucht sich immer neue Männer, um einen Platz zum Schlafen zu finden. Jeremiah muss dabei stets die Erfahrung machen, dass er im Weg ist. Nach einer gescheiterten Ein-Tages-Ehe kehrt seine Mutter nicht mehr zurück, dafür aber der verlassene Ehemann, der sich aus Verzweiflung an Jeremiah vergeht. Seine Großmutter holt den Jungen schließlich aus dem Krankenhaus ab und nimmt ihn bei sich auf. Aber im Heim der Großeltern erwartet Jeremiah kein Frieden, sondern eine christlich-fundamentalistische Erziehung zum Prediger der Apokalypse.

Asia Argentos „The Heart is Deceitful above all Things“ ist eine Reise ans Ende des Lichts geworden. Gleich zu Beginn fängt die Kamera aus der Sicht des siebenjährigen Jeremiah ein, wie Sarah einen etwas abgewetzten Stoffhasen hektisch vor seinem Gesicht hin und her wedelt. Dabei bewegt Sarah den Hasen ein wenig so, als führe sie eine Waffe, mit der sie den Jungen in Schach halten wollte. Bedrohlich nahe rückt das Stofftier wie der surreale Vorbote eines Albtraums Jeremiah auf die Pelle. Hier bündelt Asia Argento die fatale Hilflosigkeit der drogenabhängigen sozial verwahrlosten Sarah und das zukünftige Leiden Jeremiahs in einer ausdrucksstarken Eingangssequenz zusammen. Was folgt ist eine endlos lange Kette aus The Heart is Deceitful above all Things psychologischer und physischer Gewalt, die über Jeremiah hereinprasselt. Sexueller Missbrauch, erzwungener Drogenkonsum, Schläge und das Gefühl, ein Störfaktor zu sein, pflastern die Straße, auf der Jeremiah immer mehr den Einflussbereich des Lichtes verlässt. Sarah entführt ihn in das Schattenreich der White-Trash-Realität, in der Hoffnung keine Strahlkraft mehr besitzt. Tatsächlich ist Asia Argentos Portrait der sozialen Verwahrlosung geeignet, dem Zuschauer die Sprache zu verschlagen. Unerbittlich dringt sie in Regionen vor, die nur selten aus dem toten Winkel der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit herausgezogen werden. Bildsprache und Inszenierung reflektieren mit einem Wechsel zwischen nüchternen Passagen und überzeichneten Szenerien den psychischen Druck, welchen Jeremiah ertragen muss. Der Junge erfährt ständig wechselnde Autoritäten, deren zusammenhanglose Brutalität Jeremiahs Persönlichkeitsentwicklung in einen haltlosen Taumel versetzt. Dazu zählt auch das christlich-fundamentalistische Umfeld der Großeltern, deren Normsystem nur auf Angst und Gehorsam aufgebaut ist. Ihre Methoden des Missbrauchs sind formal weniger ruppig, da sie mit asketischer Strenge vorgetragen werden, eine psychologisch fatale Wirkung entfalten auch sie. „Wir haben nur einander“, sagt Sarah an einer Stelle zu Jeremiah, und angesichts fehlender Ausfahrten vom Highway ans Ende des Lichts liegt darin sogar eine bedrückende Wahrheit.

Bildqualität

Das körnige 16mm-Material weist nur wenige Bildpunkte oder Verschmutzungen auf. Die Schärfe schwankt zwischen angenehm und gut, bisweilen leidet die Konturenschärfe. Die Farbwiedergabe dürfte der beabsichtigten Palette aus blass-deprimierenden Tönen und grellen Szenerien entsprechen, so dass es hier keinen Anlass zur Kritik gibt. Schwarzwert und Kontrast machen eine ordentliche Figur. Gelegentlich ist leichtes Blockrauschen sichtbar. Insgesamt ein Transfer, der in Ordnung geht.

Tonqualität

Die beiden 5.1-Spuren entfalten genregemäß keine wuchtige Kraft, in entscheidenden Momenten sorgen aber Geräusch- und Musikeffekte für eine effektive Verdichtung der Inszenierungswirkung. Die Dialoge sind klar und verständlich, so dass der Ton gut geraten ist.

Extras

The Heart is Deceitful above all Things„Sex, Drugs and Jeremie” (etwa 16 Minuten) ist ein Interview mit Asia Argento (Regie), in dem sie sich über ihren Zugang zum Stoff, der Arbeit mit Kindern angesichts der heiklen Geschichte und eigene Bezüge zum Thema Gewalt äußert. Insgesamt ein interessantes Interview. In „The Heart of Jeremie” (etwa 15 Minuten) tritt ein vermeintlicher J.T. Leroy als Interviewpartner auf. Da die Kunstfigur J.T. Leroy eine Erfindung der Amerikanerin Laura Albert ist, musste bei öffentlichen Auftritten Leroys jemand in diese Rolle schlüpfen. In der Regel war das Savannah Knoop, die Halb-Schwester von Alberts damaligem Partner Geoffrey Knoop (weiterführende Informationen zum J.T.-Leroy-Schwindel bietet der englischsprachige Wikipedia-Artikel). Mit dunkler Sonnenbrille und einer über den Kopf gezogenen Kapuze sitzt nun ein vermeintlicher J.T. Leroy im Halbdunkel und gibt mit brüchiger Stimme Antwort über sein literarisches Werk. Dazwischen sind B-Roll-Aufnahmen vom Dreh zu sehen. Als Teil des J.T.-Leroy-Schwindels ist der Beitrag faszinierend vor dem Hintergrund einer konsequent detailiert erfundenen Figur. Sehr schade ist, dass die DVD keinerlei Aufarbeitung zu den J.T.-Leroy-Hintergründen bietet. Das wäre angesichts der Narretei gegenüber der Öffentlichkeit, die immerhin gut zehn Jahre unbemerkt blieb, angemessen gewesen. Drei Trailer runden das Bonusmaterial ab.

Fazit

„The Heart is Deceitful above all Things“ widmet sich ohne Rücksicht auf Verluste den düsteren Themen sozialer Verwahrlosung und Kindesmissbrauch. Dank der Mischung aus überzeichneter und roh-realistischer Bildsprache erzeugt Asia Argento eine Verbindung aus surrealem Albtraum und bitterer White-Trash-Wirklichkeit. Technisch ist die DVD gut.

Stefan Dabrock

   
Originaltitel The Heart is Deceitful above all Things (USA/GB/Frankreich/Japan 2004)
Länge 96 Minuten (Pal)
Studio i-on new media
Regie Asia Argento
Darsteller Asia Argento, Jimmy Bennett, Peter Fonda, Ornella Muti, Marilyn Manson, u.a.
Format 1:1,78 (16:9)
Ton DD 5.1 Deutsch, Englisch
Untertitel Deutsch
Extras Sex, Drugs and Jeremie, Trailer, u.m.
Preis ca. 18 EUR
Bewertung sehr gut, technisch gut